unfehlbarsten immer dann, wenn eines dieser Bilder, vom Gegenbilde abgelöst,
den ganzen Sinn der Erziehung in sich auszusprechen beansprucht. Denn damit
wird dasjenige Moment der Erziehung, dem dieses Bild zugeordnet ist, aus dem
gegensatzreichen Gefüge herausgerissen, innerhalb dessen es einzig seine Be-
stimmung erfüllen kann; es setzt sich absolut, d. h. dem Ganzen der Erziehung
gleich, und hebt damit deren Sinn in Wahrheit auf. Vor solcher Selbstübersteige-
rung kann es sich nur dadurch schützen, dass es sich allezeit an seinem Gegen-
bild berichtigt und begrenzt. Denn dem Gegenbild ist es eigentümlich, dass es in
sich mit der gleichen Ausschließlichkeit eben dasjenige Moment des Phänomens
‚Erziehung‘ versinnlicht, das in dem Bilde getilgt ist.
So also sich dieWaage haltend, sind beide Bilder – zwar immer noch ‚Bilder‘ und
keineswegs die adäquateWiedergabedes zudurchleuchtendenTatbestandes, wohl
aber der Entstellungen ledig, mit denen sie, jedes für sich genommen, den Sachver-
halt Erziehung
heimsuchen. In verantwortungsbewusstem Führen niemals
das Recht vergessen, das dem
aus eigenem Grunde wachsenden Leben
zusteht – in
ehrfürchtiggeduldigem Wachsenlassen niemals die Pflicht
vergessen, in der der Sinn erzieherischen Tuns sich gründet – das ist der päda-
gogischen Weisheit letzter Schluss. Beiden Motiven ihr volles Recht lassen, das
heißt nicht, wie es unserer die Extreme suchenden Zeit scheint, die Geradheit des
Wollens und die Entschlossenheit des Handelns einem flauen Kompromiss zum
Opfer bringen, sondern aus Spiel und Gegenspiel ewig rivalisierender Antriebe
das reine Wesen des Geistes herstellen.
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55
60
65
Baustein 2,
Kapitel 2
E
Baustein 2,
Kapitel 3, T
A
E
Baustein 2,
Kapitel 4
Baustein 2,
Kapitel 5
?
Aus: Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen? Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems.
12. Auflage. Stuttgart: Klett 1965, S. 80–82
Unklare Begriffe klären:
Resignation
Entsagung, Verzicht, sich in sein Schicksal ergeben
Skepsis
Zweifel, grundsätzliche Bedenken
Aspirationen
Erwartungen, Hoffnungen, Ehrgeiz
Revolutionäre Pädagogik
(hier) die marxistischen Reformbemühungen der Pädagogik
in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, teilweise auch Blickrichtungen der
Reformpädagogik dieser Zeit
irrational
nicht vernunftgemäß, (hier) übervernünftig, verstandesmäßig nicht fassbar
Rationalismus
Grundhaltung, die nur verstandesmäßige (rationale) Erklärungen und
Begründungen akzeptiert
positivistisch
Blickrichtung, die nur eindeutig gegebene (positive) Tatsachen als real
oder wirklich gelten lässt
Pädagogische Provinz
Eine Anspielung auf Goethes Bildungsroman ‚Wilhelm Meister‘,
in dem dieser Begriff im Blick auf Rousseau geprägt wurde. (Hier) das eigentliche
Gebiet, der Raum der Erziehung
flauen
sic! Steht so im Text. Wahrscheinlich Druckfehler; gemeint: fauler Kompromiss
das reine Wesen des Geistes
Litt versteht den Menschen zentral als geistiges Wesen,
das in seiner Geistigkeit erzogen werden und so ‚mündig‘ werden soll. Aufgabe der
Erziehung ist es dann, den Menschen zu einem frei denkenden Geist zu bilden, der
sich die Welt kritisch aneignen soll und dadurch die Welt und sich selbst zu ihrem
bzw. seinem Sinn führt.
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Methoden-box
Materialanalyse