Für einen Text:
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Lesen Sie den Text Wohnungselend einer städtischen Arbeiterfamilie.
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Lesen Sie nun die Aufgabenstellung:
Gliedern Sie den Text Wohnungselend einer städtischen Arbeiterfamilie
in Sinnabschnitte und finden Sie für jeden Abschnitt einen Oberbegriff.
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Wohnungselend einer städtischen Arbeiterfamilie
Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Albert Südekum beschreibt die Zustände
in einer Berliner Armenwohnung Mitte der 1890er-Jahre.
Ein heißer, schwüler Augustnachmittag. Wir kamen in einer der Querstraßen, die von
der Müllerstraße nach der Reinickendorfer Straße gehen, in ein menschenreiches
Massenmietshaus, eines von jenen, in denen die wirkliche Armut ihr Quartier auf-
geschlagen hat. Dort hatte der Arzt im dritten Stock des Quergebäudes eine kranke
Frau zu besuchen. […] Die stagnierende Luft des engen Hofes lag bleischwer auf
dem unsauberen Pflaster, die Wände des Hauses strömten eine brütende Hitze aus,
nachdem schon tagelang die Sonne ihre Glutpfeile unbarmherzig auf die Stein- und
Asphaltwüste der staubigen Großstadt herniedergesandt hatte. Ein Gefühl der Be-
klemmung legte sich mir auf die Brust, als wir durch die enge Tür zum Treppenhaus
traten und die Stiegen emporklommen. […]
Auf jeden Treppenpodest gingen drei Türen, die meisten mit mehreren Schildern
oder Karten behängt. In diesem Quergebäude gab es fast nur zweiräumige Woh-
nungen aus Stube und Küche bestehend. Viele Mieter teilten ihre Räume noch mit
Schlafburschen oder Logiermädchen.
Die Patientin meines Freundes, die Frau eines Gelegenheitsarbeiters, hatte der
furchtbaren Hitze wegen die Tür der Küche, in der sie lag, und die Tür nach dem
Treppenhause hin aufgelassen. Sie ruhte auf einem jammervollen Bett, das eigentlich
nur aus einem Haufen zerrissenen Zeuges auf einer karrenden, buckligen Matratze
bestand. […] Nur weniger ärmlicher Hausrat fand sich in dem unwohnlichen Raum.
Außer der Frau und ihrem Mann lebten in dieser Küche noch drei Kinder, von denen
das älteste, ein Mädchen, 14 Jahre, die beiden Knaben etwa 7 und 4 Jahre alt waren.
[…] In der jetzigen Wohnung hausten sie schon über sechs Monate, das sog. „Zim-
mer“ war abvermietet worden; die Küche kostete ihnen [sic] danach noch ungefähr
8–9 Mark im Monat.
Wie schlief die Familie? Mann und Frau in dem einzigen Bett. Die Kinder wurden
auf ausgebreiteten Kleidungsstücken untergebracht und durften erst dann ins Bett
kriechen, wenn Vater und Mutter – gewöhnlich vor 5 Uhr morgens – aufgestanden
waren. Die kleinsten Kinder waren jeweils in einem Korbe, gelegentlich auch, wenn
die Frau zu irgend einem Gange das Zimmer verlassen mußte, in einem halbaufge-
zogenen Schub der Kommode gebettet. Als die Frau uns dies erzählt hatte, fiel die
ganze Wucht des Jammers wieder auf sie. […]
[…]: der entsetzliche Lärm, die Hitze, das Geschiebe und Gedränge der Menschen,
das Poltern und Schimpfen über ihr und neben ihr und unter ihr und doch auch wieder
das Gefühl der vollständigen Vereinsamung in dieser Karawanserei sei in den letzten
Tagen so übermächtig in ihr geworden, daß sie fürchte den Verstand zu verlieren und
sich aus dem Fenster zu stürzen. […]
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Aus: Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd.8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871–1918, Stuttgart 2010, S.159f.
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